Schuhputzen im öffentlichen Raum


{vamos!gemma} = arriba y abajo - Schuhputzen im öffentlichen Raum
Da sich diese Kunstaktion offensichtlich mit entgegengesetzten Werte-paaren beschäftigt - Arriba y Abajo (oben und unten) gehe ich inhaltlich zuerst in den Kontrast und dann in die Verbindung. 


Karin M. Sajer und Jani W. Schwob , also {vamos!gemma}Österreich, die Initiatoren dieser Aktion sind geografisch gesehen oben am Globus , Nicaragua eher unten liegend. Eigentlich ist Nicaragua eher mittig gelegen, aber für die eingebildeten Nordhalbkugler ist, obwohl irrgläubig, ein Großteil der Welt unten angesiedelt. Dass Österreich zu den reichsten Ländern überhaupt und Nicaragua in Lateinamerika zu den ärmsten gehört ist eine Tatsache, die den Sinn und Zweck des Projekts von {vamos!gemma} erklärt.



Was aber haben Schuhputzer mit dem Spannungsfeld oben-unten zu tun. Unten ist wohl ihr Arbeitsplatz - auf Augenhöhe der Schuhe anderer und die gesellschaftliche Position ist auch eher am unteren Rand angesiedelt. Den Dreck von den Schuhen anderer zu entfernen ist eine ziemlich erniedrigende Tätigkeit. Andererseits repräsentiert die Frau/der Mann von Welt im Kalbslederschuhkleid jene Gesellschaftsschicht, die sich mit ihrer Arbeit die Finger nicht mehr schmutzig machen müssen. 

Genau diese Situation am Arbeitsplatz zwischen arm und reich, unten und oben, bietet aber auch die Möglichkeit des informellen Austausches.Neuigkeiten werden von den Obrigen weitergereicht und ermöglichen dem Schuhputzer als Informant des urbanen Geschehens sein Ansehen im städtischen Wirrwarr erheblich zu manifestieren.


Allerdings wird der Schuhputzerdienst in Europa kaum noch gebraucht. Die Menschen erkennen den gepflegten Schuh nicht mehr als Statussymbol. Der Nachweis für die gesellschaftliche Rangordnung ist eher nach oben Richtung Smartphoneneuheit gerutscht, während für den Fuß oft ein Billigsneaker oder Gummireptil ausreicht. 



Bleibt die Frage, wie müsste sich in Europa ein erfolgreicher Schuhputzer anpassen - durch Zusatzservice, wie Ladestation, menschliche Google, Appverteiler? Aus dem Stadtbild Europas ist der Schuhputzer fast gänzlich verschwunden, während der Schuhputzertage in Graz, wird die Kunst der Schuhpflege wieder zu sehen und erleben sein und vor allem zu nutzen.






Blechblüten, Plastikhäutung, Kartonagerie

Alles braucht einen Namen, einen eindeutigen, um Bedeutung zu erlangen, sonst lässt sich Tisch nicht von Sessel unterscheiden, verwechselt seine Funktion und plötzlich ist die Gabel an der falschen Stelle und man isst vom falschen Platz. Schon werden Namen zu Normen und das Ganze ein Stil, der Estilo Centroamericano, Ausgangspunkt eines Gedankengespinnstes:

Nicaragua, Leon, Busbahnhof, Dezember 2006, 9 Uhr a.m.
Daran gelehnt fügt sich der größte und lebendigste Markt der 150000 Einwohner Stadt. Die Sonne brennt bereits mit voller Leistung auf Mensch und Material. Wer hier lebt und arbeitet braucht Schutz vor der Erbarmungslosigkeit der Elemente: Feuer > Sonne, Wasser > Regen.
Durch die Marktgassen, -pfade und -schleusen schieben sich bereits die Käufer. Es gibt alles: Gemüse, Obst, Fleisch, Krebse – alles, was gern gegessen wird in Nicaragua - Suppenwürfel, Ketchup, Salsas; weiters Kosmetik, Haushaltswaren, Textilien und so weiter und noch darüber und darunter.
Der Staub steigt auf, es ist jetzt Trockenzeit in Leon, und der blecherne Sound aus unzähligen Boxen hernieder. Markfrauen und Marktmänner rappen ihre Ankündigungen dazwischen. Das Szenario ist hochgefahren. Der ins Aktionsgewirr eingeklemmte Europäer zieht sich erschreckt zurück in sein My-homy-is-my-Schneckenhaus, aber die Neugier lockt, und Augen und Ohren öffnen sich bald und man ist mitten drin in einer Lebensstruktur, bestehend aus skurrilen Einzelteilen. Links und rechts aneinandergefügt drängen sich die Marktstände, ob stabil oder fragil. Zusammen bilden sie ein gewachsenes Geflecht aus den in Zentralamerika typischen Materialien: Blech, Plastik, Karton.
Auf Holzstelzen balanciert sich eine aus diesen Materialien ineinander verschuppte Dachkonstruktion. Darunter wird die sorgfältig arrangierte Ware auf schrägen Tischelementen, oder baumelnd und aufgefädelt angeboten. Für diesen Dachbau ist Zufall, Notwendigkeit und der gerade vorhandene Baustoff Architekt und Baumeister. Die Konstruktion folgt aufgrund der zahlreichen Teilnehmer der Mitspieler einerseits dem evolutionären Konzept, survival of the fit, und anderseits dem Katastrophenmodell, was nicht hält, fällt. So entsteht eine Epidermis, die - lässt man sich nicht von der Art des Materials nicht ablenken - einem fast organischen Bauplan nachfolgt und neue ästhetische Anblicke übermittelt. Für das Auge des Betrachters verwebt sich die Ordnung der zu pittoresken Hochbaumodellen von aufgestapelten Kleinprodukten und die Arrangements tropischbunter Gemüsesorten und Früchte mit den filigranen Fach- und Flachwerk aus Blech, Plastik und Karton zu einem dreidimensionalen Gesamtkunstwerk mit Soundinstallation im Grenzlautstärkeberich. Dieser in sich verwachsene Organismus wird „zusammengehalten“ von den bündelweise im Schleuderverfahren montierten Elektrokabeln, die an ihren Enden die zeitweise Energie für lärmende Gerätschaft liefern. Dazwischen kümmern sich wandelnde Verkaufsstände mit Gewürzgirlanden, Sonnenbrillensträußen oder Gaseosas, in Plastikblasen verdichtet, um die interessierte Kundschaft. Geht der Betrachter ins Detail wird das charmante Gesamtbild eines mittelamerikanischen Marktes von farbenfrohen Aufklebern Mutter Marias und Jesus verziert. Nicht zu übersehen ist auch die Gruppe der etwas anderen Schutzheiligen aus der Familie der Toons aus dem Hause Warner. Ob die Pickerln der christlichen Segenspender oder Bugs Bunny das ganze Ding zusammen halten ? Eher der Schuß Latinospirit, der dem Prinzip folgt, bei auftretenden Problemen zu improvisieren oder noch leichter die selbigen zu ignorieren.
Es ist 10 Uhr 30 Vormittag geworden, für meine österreichische Konstitution wird die Hitze schön langsam unerträglich. Karin Sajer und ich, Jani Schwob, haben Plastiksäcke mit Notwendigkeiten und Genüsslichkeiten gefüllt. Es zieht uns Richtung Camioneta, dem überaus praktischen Transportkonzept der Stadt, und wir fahren damit ins Zentrum von Leon, wo wir, in einem kühlen Kolonialbau einquartiert, über Mittag die Details für das VAMOS-GEMMA-Projekt ( www.nicaragua.mur.at ) aushirnen. Seit 2004 unterstützen wir Kinder in Leon, fördern ihre Schulbildung und machen vor allem eines: Wir wecken ihre schöpferische Neugier und entwickeln gemeinsam kreative Prozesse. Heute Nachmittag fahren mit den Kindern hinaus in eine Schule am Rande der Stadt. Abwechselnd lernt dort die eine Gruppe erste Schritte am PC, während die andere einen Reggaetonsong mit uns einstudiert, der in seiner Endfassung mindestens so nackenhaarimpulsierend und schweißtropfenkistallin wird wie das Szenario am Markt am Busbahnhof von Leon in Nicaragua.

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